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EDITORIAL : DIE VIELEN UNSICHERHEITEN FÜR 2023

Beginnen wir zunächst mit einem kurzen Rückblick auf das abgelaufene Jahr, das nicht tumultreicher hätte verlaufen können. Dabei beherrschte der brutale, vor keiner Grausamkeit zurückschreckende Ukraine-Krieg, der leider auch noch in 2023 fortdauern wird, das Weltgeschehen.

auf dramatische Weise unsere Schwachstellen aufgezeigt. Die Fehler der Vergangenheit, ob sie auf einer völlig falschen Energiepolitik beruhten oder in einer viel zu starken Abhängigkeit von fremden, uns nicht freundlich gesinnten Ländern bestanden, forderten einen harten Tribut. Die Inflationsraten erreichten historische Höchststände, wozu die eingetretenen Lieferkettenengpässe nicht unerheblich beitrugen.

Die geglückte Wiederwahl von Präsident Macron war gleichzeitig mit einem schmerzlichen und folgenschweren Mehrheitsverlust seiner Regierungspartei verbunden. Das bisher übliche Durchregieren des amtierenden Staatspräsidenten war damit zu Ende. Die dadurch erhoffte „Wiedergeburt“ des französischen Parlamentsgeschehens trat leider nicht ein.

So wurde die parlamentarische Tagesarbeit der über keine Mehrheit verfügenden Exekutive erheblich eingeschränkt bzw. teilweise sogar blockiert und die Realisierung dringender Gesetzesvorhaben zeitlich in die Länge geschoben. Das Haushaltsgesetz 2023 konnte nur im Erlassverfahren, d.h. ohne Zustimmung des Parlaments durch Art. 49.3 rechtskräftig werden. In der Zwischenzeit musste die Premierministerin noch zehn Mal zu diesem „Notartikel“ greifen.

Insgesamt verlief jedoch das Jahr 2022 für die französischen Unternehmen und deren Gewinnsituation recht zufriedenstellend. Das Jahreswirtschaftswachstum dürfte trotz Rückgang und Konsumeinbruch in den letzten Monaten von 2022 noch bei 2,6% des BIPs liegen, womit Frankreich sich im oberen Drittel der EU-Länder bewegen wird. Die befürchtete starke Pleitewelle der Unternehmen traf nicht ein, und auch die Arbeitslosenzahlen stabilisierten sich weiterhin.

Aber wie stehen die Aussichten für 2023?

Lassen Sie uns zunächst mit den wirtschaftlichen Zahlen beginnen. Frankreich kann sich dem weltweit angekündigten Wachstumsrückgang nicht entziehen. Die Regierung geht in ihrem Budget 2023 noch von einem geringen Anstieg von 1% aus. Höchstwahrscheinlich wird sich diese Erwartungshaltung – so auch die Zahlen der Banque de France, der eine Spannbreite zwischen 0,2 – 0,8% zugrunde liegen – nur sehr schwer erfüllen lassen. In Anbetracht der hohen Energiekosten, einer Inflationsrate, die zunächst auf 7% ansteigen und dann bis Ende Juni 2023 auf 5,5% zurückgehen soll sowie einer weiteren Anhebung der Finanzkosten ist ein Abbau des Haushaltsdefizits unter 5% nicht vorgesehen.

In gleicher Weise wird sich auch bei der extrem hohen Verschuldung – Ende November 2022 lag sie bei ca. 112% des BIPs – in diesem Jahr nur wenig ändern. Innerhalb der EU wird es deshalb zu den gleichen Diskussionen und Auseinandersetzungen hinsichtlich eines neuen Stabilitätspaktes kommen.

Ein äußerst wichtiges innenpolitisches Nahziel der Regierung ist nunmehr eine definitive Verabschiedung der Rentenreform. Für Präsident Macron ist dieses Vorhaben zu einem seiner wesentlichsten Prestigevorhaben geworden. Ein nochmaliges Scheitern wäre ein fatales Zeichen für seine eigene Erfolgsbilanz, aber auch ein harter Schlag für die mittelfristige, so dringend notwendige Schuldensanierung des Landes.

Es wird nicht leicht werden. Die Fronten sind total verhärtet, und akzeptable Kompromisslösungen liegen noch nicht auf dem Tisch. Die Regierung benötigt die traditionell gemäßigte Rechtspartei „LR“ („Les Républicains“) als Alliierte, die gerade mit viel Mühe ihren neuen Präsidenten, Eric Ciotti, einen am äußersten Rechtsrand stehenden Politiker wählten. Grundsätzlich sind zwar die Mitglieder der „LR“ für eine Rentenreform, wenn auch mit unterschiedlichen Optionen. Aus taktischen, wahlpolitischen Gründen möchten sie aber auf keinen Fall als Steigbügelhalter für die Politik von Präsident Macron benutzt werden. Es wird für die Regierung von Elisabeth Borne nicht leicht werden, Ciotti als Partner zu gewinnen.

Noch kennen wir nicht die Gesetzesvorlage der Regierung. Seit September wurde öffentlich statt über den Inhalt immer nur über formale Dinge wie z.B. die Vorgehensweise diskutiert.
Die endlich für Mitte Dezember angesagte parlamentarische Vorstellung des Gesetzesentwurfes wurde wiederum kurzfristig auf Mitte Januar 2023 vertagt.

Das Wunschziel der Regierung ist die Heraufsetzung des gesetzlich geltenden Rentenalters von 62 auf 65 Jahre. Dabei ist wichtig zu wissen, dass unabhängig vom Rentenalter eine bestimmte Anzahl von Rentenbeitragszahlungen erforderlich ist, um in den Genuss einer abschlagsfreien Rente zu gelangen. Nach der „Reform Touraine“ aus 2014 müssen z.B. alle ab 1973 geborenen Arbeitnehmer mindestens 43 Jahre lang (also 172 Quartale) Rentenbeiträge eingezahlt haben.

Völlig unabhängig davon, was schließlich vom Parlament beschlossen bzw. von der Regierung durchgedrückt wird, ist bereits heute davon auszugehen, dass die Gewerkschaften zu Demonstrationen und massiven Streikbewegungen aufrufen werden. Ein kleiner Vorgeschmack ergab sich bereits bei den heftigen Bahnstreikverhandlungen vor Weihnachten. Es ist völlig offen, auf welche Unterstützung die verschiedenen gegnerischen Gruppen in der breiten Öffentlichkeit stoßen werden und welche Auswirkungen dies auf die gesamte Rentenreform haben wird.

Der Ausblick auf 2023 darf nicht ohne einen Blick auf den verheerenden Ukraine-Krieg und dessen bisherige bzw. weiteren Folgen zu werfen, enden. Statt uns in Europa auseinanderzutreiben, wurden wir mehr denn je zusammengeschweißt. Das teilweise als überholt oder sogar von einigen als hirntot verspottete NATO-Bündnis hat mit einem Schlag seine überragende Wichtigkeit und Aktualität zurückerhalten. Der Angriff, der bisher in erster Linie von der ukrainischen Bevölkerung zu ertragen war, gilt in gleicher Weise uns und unserer Demokratie. Mögen wir deshalb auch im kommenden Jahr bedingungslos bereit sein, die sich hieraus ergebenden Konsequenzen weiterhin mitzutragen.

Wir wünschen Ihnen und Ihren Angehörigen ein friedlicheres, aber auch weiterhin erfolgreiches Jahr 2023.

Ihre DiagnosticNews-Redaktion