DIE ERSTEN SECHS MONATE DER ZWEITEN AMTSPERIODE VON PRÄSIDENT E. MACRON
Die Franzosen sind in der Gewährung ihrer Wählergunst sehr wankelmütig und leicht beeinflussbar. In der von Charles de Gaulle errichteten fünften Republik schafften es vor 2022 nur zwei Präsidenten, François Mitterrand und Jacques Chirac, wiedergewählt zu werden und zwei Amtszeiten absolvieren zu können. De Gaulle trat enttäuscht über den Ausgang eines Referendums nach elf Jahren zurück. Giscard d‘Estaing, Nicolas Sarkozy und François Hollande wurde eine zweite Präsidentschaft verwehrt.
Emmanuel Macron durchbrach zwar diese Serie, in den nachfolgenden Parlamentswahlen wurde jedoch seiner Regierung die Mehrheit verweigert. Ein Novum in der jüngeren französischen Politik und nachträglich noch ein Misstrauensbeweis für seine vergangene Amtsführung.
Positive Stimmen interpretierten die neue Situation in der Nationalversammlung als eine mögliche Renaissance des französischen Parlamentarismus. Die wesentlich breitere Repräsentanz des Wählerwillens und das Fehlen einer abgesicherten Regierungsmehrheit sollten die vertretenen Parteien zu mehr Kompromissbereitschaft, um notwendige Gesetzesvorhaben zu realisieren, veranlassen.
Diese Hoffnung hat sich leider im ersten Halbjahr der zweiten Amtszeitvon E. Macron nicht erfüllt.
Ganz deutlich trat dieses Phänomen bei den Beratungen zum Haushaltsgesetz („Loide Finances“) 2023 zutage. Premierministerin E. Borne war nach langen, keine Einigung erzielenden Parlamentsdebatten gezwungen, das Gesetz mit Hilfe des Verfassungsartikels 49.3, d.h. ohne parlamentarische Abstimmung zu verabschieden.
Die linksradikale Nupes- Partei brachte daraufhin einen Misstrauensantrag gegen die Regierung ein. Völlig überraschend und im Widerspruch zu allen bisherigen Ankündigungen trat die rechtsradikale Le Pen-Partei (RN) dem Antrag bei. Erstmalig dokumentierte sie damit, dass sie trotz diametral entgegengesetzter Ziele und völlig anderer Wertauffassungen als die Nupes, keine Gelegenheit vergehen lassen würde, um gemeinsam – mit welchem politischen Gegner auch immer – E. Macron zu schwächen.
Nur die geschlossene Unterstützung der traditionellen Rechtspartei (LR) verhinderte den Sturz der Regierung. Der raffinierte Schachzug von Marine Le Pen zwingt nun die LR-Partei, ihre, zukünftige Position völlig neu zu überdenken. Möchte sie weiterhin eine unabhängige Oppositionspartei bleiben? Oder sollte sie sich nicht doch mehr der Regierung nähern und vielleicht sogar, wie es Präsident Macron in seinem letzten Fernsehinterview anbot und von einigen Spitzenvertretern der Partei bereits gefordert wird, eine Art „Koalitionsvereinbarung“ mit der Regierung abschließen?
Die republikanische, bürgerliche Rechtspartei, die mit Macrons Präsidentschaft 2017 ihre absolute Führungsposition verlor und in der letzten Parlamentswahl nur noch auf ca. 70 Sitze kam, steht vor einer schwierigen Entscheidung mit großen Auswirkungen auf ihre zukünftige Entwicklung und insbesondere auf ihre Wählerattraktivität. Der bestehenden Minderheitsregierung könnte sie die dringend notwendige Stabilität bringen, um die wichtigen Reformen umsetzen zu können.
Aber noch ist es nicht soweit. Der Handlungsrahmen der Regierung bleibt also weiterhin sehr eingeschränkt. Hier ist nun – mehr denn je – ein entscheidungsfreudiger, eine klare Richtung vorgebender und insbesondere Vertrauen ausstrahlender Präsident gefragt. Wird Emmanuel Macron derzeitig in dieser Rolle wahrgenommen?
Betrachtet man die vergangenen sechs Monate, so sind einige Zweifel daran angebracht. Hierzu ein paar Beispiele:
E. Macron war es nicht gelungen, seine Wunschkandidaten für den Posten des Regierungschefs und den des Präsidenten der Nationalversammlung durchzudrücken. Auch die offen ausgetragene Auseinandersetzung mit François Bayrou, dem Gründer der MODEM-Partei und Gefährten der ersten Stunde, hinsichtlich der Durchführung der Rentenreform und schließlich das Umschwenken auf dessen Forderung, ließ eine klare Vorgehensweise vermissen. Die bisherigen Diskussionen über dieses so wichtige Gesetzesvorhaben, die sich im Augenblick im Wesentlichen auf die Form statt auf den Inhalt beschränken, lassen berechtigte Zweifel an einer baldigen Umsetzung aufkommen. Sehr wenig hilfreich für die Autorität des gerade frisch gewählten Präsidenten ist auch die Tatsache, dass bereits heute schon mehrere Kandidaten sich für die nächste Präsidentschaft zu profilieren versuchen.
Trotz der immensen diversen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen, um die Energiekostenexplosion einigermaßen noch im Griff zu halten, was immerhin durch einen derzeitigen Inflationsstand von 6,2% im Vergleich zu anderen EU-Staaten teilweise geglückt ist, herrscht eine äußerst negative Stimmung in der Bevölkerung. Die Folge sind permanent kleinere
Streitbewegungen.
Die gerade zu Ende gehende, mehr als 4 Wochen anhaltende Bestreikung der Raffinerien, die teilweise zum Totalausfall vieler Tankstellen, insbesondere im Großraum Paris führten, zeigte deutlich die mangelnde Durchsetzungskraft der Regierung. War es die Angst, eine Wiederholung der Gelbwestenbewegung auszulösen, die die Exekutive daran hinderte, eine radikalere Vorgehensweise einzuschlagen?
Letztlich ist noch auf die in den letzten Monaten aufgetretenen Spannungen im deutsch-französischen Verhältnis hinzuweisen. Es besteht kein Zweifel, dass weiterhin zwischen beiden Ländern viele Unterschiede bestehen. Die Ursachen sind vielfältig und hier nicht darzulegen. Insbesondere der Ukraine-Krieg und die Problematik der Energiekrise haben sie wieder einmal besonders herausgestellt. Es ist das gute Recht beider Länder, unterschiedliche Auffassungen zu vertreten und entsprechende Handlungsweisen daraus abzuleiten. Sie mussten u.a. wegen neu erkannter Prioritäten und, um den veränderten politischen Verhältnissen im eigenen Land Rechnung zu tragen, ergriffen werden. Dabei erlaubte die in der Vergangenheit in beiden Ländern unterschiedlich betriebene Schuldenpolitik den Einsatz von mehr oder weniger hohen Finanzmitteln. Leider wurde jedoch das Gebot des permanenten Informationsaustausches und eines ständigen Dialogs nicht immer gebührend beachtet.
Das Ziel ist ein vereintes, handlungsfähiges Europa. Ohne ein spannungsfreies, auf Vertrauen beruhendes Verhältnis zwischen den beiden größten europäischen Partnern, die 40% des Volkseinkommens der EU repräsentieren, kann dies aber nicht gelingen.
Die gerade begonnene Präsidentschaft hat bisher keinen gloriosen Verlauf genommen. Die von Anfang bestehenden Fronten scheinen sich nicht zu lichten. Die Entscheidung der LR-Partei, welchen Weg sie einschlagen will, ist deshalb von immenser Bedeutung für die weitere Funktionsfähigkeit der Regierung. Wird Präsident Macron ansonsten gezwungen sein, von seiner Drohung das Parlament aufzulösen Gebrauch zu machen?
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und einige Ratschläge für Ihr Tagesgeschäft.
Ihre DiagnosticNews-Redaktion
Founder, Chartered Accountant, Statutory Auditor, Wirtschaftsprüfer
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