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DIAGNOSTIC NEWS N°216

Gewaltige Herausforderungen erwarten den neuen französischen Ministerpräsidenten. 52 Tage mussten die französischen Wähler warten, bis Emmanuel Macron sich endlich für einen neuen Regierungschef entscheiden konnte.

Die lange Sommerpause ist zu Ende. Die großartigen Olympischen Spiele, die Paris und Frankreich für eine kurze Zeit in einem völlig anderen Licht erscheinen ließen, sind vorüber. Der politische Alltag und der alte Unruhezustand sind mit voller Wucht wieder zurückgekommen und fordern höchste Aufmerksamkeit. Der französische Staatspräsident, dem das alleinige, uneingeschränkte Ernennungsrecht des Ministerpräsidenten zusteht hat seine Wahl getroffen. Die qualvolle Zerreißprobe, die den Bürgern und politischen Parteien auferlegt wurde, ist damit beendet.

Michel Barnier, ein 73-jähriger politischer Routinier, der bereits in verschiedenen Regierungen hohe Ministerposten ausübte und auch in der Kommission in Brüssel wichtige Ämter bekleidete, wurde nun mit der heiklen Regierungsführung beauftragt.

Dem neuen Premierminister, ein Urgestein der traditionellen Rechtspartei („Les Républicains“, LR), der über ein großes Verhandlungsgeschick verfügt, das er auch als EU-Unterhändler beim Brexit unter Beweis stellen konnte, muss es nun gelingen, zwischen den beiden völlig zerstrittenen Blöcken, der radikalen linken Volksfront („Nouveau Front Populaire“) und der nicht minder radikalen Le-Pen-Partei („Rassemblement National“, RN), zu vermitteln, um Frankreich aus der bestehenden Patt-Situation zu befreien.

Große Aufgaben warten auf den neuen Ministerpräsidenten und seine Equipe, um für die unterschiedlichen Problemkreise einen Kompromiss und damit eine Mehrheitsbasis zu finden.

Im Vordergrund stehen zunächst die schwierigen Budgetverhandlungen. Die derzeitige Finanz- und Haushaltslage hat sich seit dem Frühjahr 2024, als die gewaltige Abweichung des Budgetdefizits 2023 festgestellt wurde, nicht verbessert, sondern sogar noch weiter verschlechtert. Statt, wie noch von der alten Regierung geplant, eine Defizitrückführung Ende 2024 auf 5,1% zu erreichen, ist derzeitig sogar noch mit einem weiteren Defizitanstieg auf mindestens 5,6% zu rechnen. Hier rächt sich, dass im März 2024 kein offizielles, berichtigtes Haushaltsbudget 2024 mit verbindlichen Anweisungen ergangen ist. Die lasche Haushaltsführung und das übliche Nachgeben, um größere soziale Auseinandersetzungen zu vermeiden, führten bei gleichzeitigen Mindereinnahmen aufgrund des restriktiven Konsumverhaltens zu der äußerst kritischen derzeitigen Finanzlage.

Für 2025 würde die Fortführung dieser Situation zu einem Haushaltsdefizit von 6,2% führen. Die obigen Defizitzahlen für 2024 und 2025 stehen im krassen Widerspruch zu den Angaben und Engagements, die im Frühjahr 2024 gegenüber der europäischen Kommission abgegeben wurden. Um die eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen, müsste Frankreich in 2024 noch 15 Mrd. € und für das Haushaltsbudget 2025 nochmals 30 Mrd. € an Einsparungen vornehmen. Eine gewaltige Herausforderung für Michel Barnier und seine noch nicht zusammengestellte Mannschaft. Die Zeit drängt; bereits Anfang Oktober muss dem Parlament und der europäischen Kommission ein neuer Haushaltsplan 2025 mit einem entsprechenden Maßnahmenkatalog vorgelegt werden. Gegenüber Brüssel muss der ehemalige, erfahrene Kommissar Barnier nun in seiner neuen Rolle um einen weiteren Vertrauensvorschuss für Frankreich werben. Vielleicht erleichtern ihm ja dabei seine internen Kenntnisse und Kontakte aus seiner früheren Tätigkeit.

Ein weiterer, nicht minderer Problemkreis dürfte sich aus der gerade rechtskräftig gewordenen Rentenreform, die das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre festlegt, ergeben. Die beiden radikalen Parlamentsblöcke fordern kategorisch eine Wiederaufnahme und massive Änderung an dieser für Präsident Macron wichtigsten Reform seiner Präsidentschaft. Michel Barnier selbst war bisher ein engagierter Vertreter der Rente mit 65. Wie und an welcher Stelle hier ein vertretbarer Kompromiss gefunden werden kann, dürfte dem neuen Ministerpräsidenten viel Verhandlungsgeschick abverlangen.

Für das Gelingen der neuen Regierung ist das Verhalten von Emmanuel Macron von großer Bedeutung. Wird er sich auf seine in der Verfassung vorgesehene Rolle eines Präsidenten beschränken und das Regieren dem Ministerpräsidenten und dessen Mannschaft überlassen, ohne wie bisher alle wichtigen Entscheidungen vom Élysées Palast treffen zu wollen?

Die letzte Parlamentswahl hat zwar der Regierungspartei herbe Verluste beschert, aber weder die radikale Linksvereinigung (Volksfront) noch die Le-Pen-Partei (RN) erhielten eine absolute Mehrheit. Die nun vorliegende komplizierte Situation zwischen den drei Parlamentsblöcken zwingt zu einem völligen Umdenken und einem neuen Regierungstil – noch mehr als dies bereits nach der Wahl 2021 der Fall war. Nur bei Vorliegen einer echten Bereitschaft zu Kompromissen kann es zu einer konstruktiven Regierungsarbeit kommen. Ob diese Einstellung und der Wille hierzu bei allen Parteivertretern vorliegen, wird die Zukunft zeigen.

In diesem Zusammenhang ist es angebracht, noch auf ein anderes Ereignis hinzuweisen. Es handelt sich um die unerwartete Ankündigung von Edouard Philippe, dem ehemaligen Ministerpräsidenten aus Emmanuel Macrons erster Amtsperiode, als zukünftiger Präsidentschaftskandidat. Dabei überraschte insbesondere der gewählte Zeitpunkt, aber auch die harte Kritik am Regierungsstil des Präsidenten und an dessen nicht nachvollziehbarer Entscheidung der Auflösung der Nationalversammlung. Auch hält Edouard Philippe eine vorzeitige, von Macron selbst initiierte Beendigung seiner noch bis 2027 laufenden Präsidentschaft für nicht ausgeschlossen und steht hierfür bereit. Sollte durch diesen kleinen politischen Paukenschlag, der von einem Großteil des politischen Lagers abgelehnt wird, bereits der Ausklang der Präsidentschaft von Emmanuel Macron eingeleitet worden sein?

Frankreich geht politisch in eine neue Ära. Vordergründig benötigt es eine handlungsfähige Regierung. Es gibt bereits einige positive Anzeichen, die hoffen lassen, dass der pragmatische, kompromissbereite, wirtschaftlich ausgeglichen denkende, neue Premierminister kurzfristig dabei Erfolg haben könnte. Präsident Macron ist aufgerufen, ihm hierbei weitgehend freie Hand zu gewähren.

Gleichzeitig wirft der in zwei Jahren beginnende Präsidentschaftswahlkampf bereits heute seinen Schatten voraus. Auch hierfür muss alles getan werden, damit die mittlerweile äußerst stark gewordenen populistischen Bewegungen gestoppt werden und nicht sogar den künftigen Präsidenten stellen. Ein positiver Ausgang der Regierung Barnier würde einen wichtigen Beitrag leisten.

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und vielleicht auch ein paar nützliche Informationen für ihren professionellen Alltag.

Ihre DiagnosticNews-Redaktion

 

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