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DIAGNOSTIC NEWS N°202

Präsident Macron ist hart geblieben: Der Verfassungsrat hat das Rentenreformgesetz - von einigen unbedeutenden Abstrichen abgesehen - für verfassungskonform erklärt. Seine Promulgation wurde unverzüglich vom Staatschef vollzogen. Ab September 2023 wird damit das bisher geltende gesetzliche Renteneintrittsalter von 62 Jahren jährlich um drei Monate erhöht. Für alle ab 1968 geborenen Generationen gilt dann der neue gesetzliche Rentenbeginn mit 64 Jahren.

Ist damit das Rentenkapitel abgeschlossen?

Präsident Macron möchte gerne eine neue Seite aufschlagen und zur Tagesarbeit übergehen. Dabei folgen ihm jedoch weder die öffentliche Meinung noch die geschlossene Einheitsfront der Gewerkschaften. Beide sind nicht gewillt, die neue Rentenregelung zu akzeptieren und fordern, völlig unrealistisch, die Rücknahme des Gesetzes.

Eine gerade veröffentlichte Untersuchung des namhaften französischen Forschungsinstitutes Rexecode hat noch zusätzliche Verwirrung geschaffen. Es bezweifelt, ob das wichtige Ziel der Reform, das bestehende stark defizitäre Rentensystem bis 2030 ausgleichen zu wollen, tatsächlich realisierbar ist. Nach den Berechnungen von Rexecode soll nämlich bei Nichteintritt der relativ optimistischen Annahme, die die Exekutive der Reform zugrundelegte (insbesondere zum Wachstum und zur Arbeitslosigkeit), in den kommenden Jahren weiterhin eine Lücke zwischen 7 bis 20 Mrd. € zu diesem Zeitpunkt bestehen.

Präsident Macron versucht, den Zorn der Bevölkerung zu dämpfen und wirbt für einen neuen Aufbruch. Die direkt nach der Promulgation des Rentengesetzes gemachte Fernsehansprache fand jedoch nur wenig Anklang: 78% der Zuschauer waren sogar sehr enttäuscht, und die angekündigten 100 Tage Schonfrist, in der ein von der Regierung detaillierter Maßnahmenkatalog vorgelegt und dessen erste Ergebnisse am 14. Juli vorgestellt werden sollen, wurde besonders skeptisch aufgenommen. Eine noch abstoßendere, in keiner Weise dialogbereite Haltung wird von den Gewerkschaften entgegengebracht. Obwohl die Streikbewegungen immer weniger aktive Beteiligte finden – im Augenblick liegen die großen Erwartungen auf den angekündigten Streiks und auf den Protestmärschen am 1. Mai –, ist von dieser Seite keine schnelle Änderung ihrer Position zu erwarten.

Ist es die Person des derzeitigen Präsidenten, sein autoritärer, wenig kollegialer Führungsstil oder seine oft zur Schau getragene intellektuelle Überheblichkeit, der er die ihm entgegengebrachte völlige Ablehnung zu verdanken hat?

Ein Blick zurück in die Schicksale der Vorgängerpräsidenten der 5. Republik könnte ganz generell einen Teil der Frage beantworten. Bereits eine zweite Amtsperiode zu erreichen, wie es Emmanuel Macron glückte, gehört nicht zum französischen Normalfall. Nur de Gaulle und Mitterrand, wobei Letzterer eine Rechtsregierung dulden musste, war sie vergönnt. Die Wiederwahl von Chirac wurde im Wesentlichen durch einen Zusammenschluss aller Parteien gegen Le Pen ermöglicht. Die Präsidenten Hollande und Sarkozy genossen nur während einer relativ kurzen Zeit eine gewisse Popularität.

Es ist also schwer für einen französischen Präsidenten, über eine längere Zeit in der Gunst seiner Landsleute zu bleiben. Was auch immer wieder die Frage aufkommen lässt, ob es nicht sinnvoller wäre, ihn für eine bestimmte Zeit (z.B. sieben Jahre), die aber nicht wiederholbar wäre, zu wählen. Emmanuel Macron befindet sich augenblicklich in einer Sackgasse. Die mit der Brechstange durchgedrückte Rentenreform wird ihm von der Mehrheit der Bevölkerung nicht verziehen. Sie lässt keine Gelegenheit verstreichen, ihre Protesthaltung und Missachtung gegenüber dem Präsidenten bei dessen öffentlichen Auftritten durch eine mit Kochtöpfen erzeugte, lautstarke Geräuschkulisse unter Beweis zu stellen. Noch handelt es sich um friedliche Missgunstbezeugungen, die sicherlich den bisher bekannten Gewaltattacken gegen Polizisten vorzuziehen sind, deren weitere negative Entwicklung aber nicht voraussehbar ist.

Präsident Macron hat gerade das erste Jahr seiner zweiten Amtsperiode hinter sich gebracht. Vier weitere Jahr müssen nutzbringend für das Land umgesetzt werden. Wichtige Gesetzesvorlagen liegen auf dem Tisch und müssen zügig in Angriff genommen werden, wozu es jedoch einer parlamentarischen Mehrheit bedarf, die es zurzeit nicht gibt.

Nach dem Abstimmungsdebakel zum Rentengesetz sind weder die zerstrittene bürgerliche Rechtspartei „LR“ noch eventuell enttäuschte Anhänger der linksradikalen Vereinigung „Nupes“ derzeit zu Koalitionsgesprächen mit der Regierung bereit. Darüber hinaus muss der stetige Anstieg der extremen Rechtspartei „RN“, die als weitgehend „stiller Beobachter“ von den Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften und der „Straße“ am meisten profitierte, gestoppt werden, um einer noch größeren „Wählbarkeit“ dieser politischen Radikalpartie eine realistische Alternative entgegensetzen können.

Dennoch muss die Regierung, selbst wenn dies von der Bevölkerung nicht so gesehen wird, wieder zur normalen Tagesarbeit zurückkehren. Als ein besonderes Sorgenkind steht hier wieder einmal der Abbau des viel zu hohen Schuldenbergs im Vordergrund. Anlass hierzu geben einmal die sprunghaft angestiegenen Zinsen, die Bedeutung der Bewertungsagenturen, die die Bonität und damit die Kapazität niedrige Zinssätze erhalten zu können, festlegen und natürlich die Kommission in Brüssel.

Es ist geplant, die Staatsschuldenquote von 111,6% des BIPs Ende 2022 auf 108,3% in 2027 zurückzuführen. In absoluten Zahlen ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Schuldenberg sich zwischen 2021 und 2022 trotz prozentualem Rückgang der Staatsschuldenquote auf 2,950 Mio. € erhöhte! Durch den dramatischen Anstieg der Zinsen kommt damit der Schuldenbelastung eine besondere Bedeutung zu. Nach den Schätzungen des französischen Finanzministeriums könnte sich die jährliche Zinsbelastung von 42,2 Mrd. € in 2022 auf ca. 70 Mrd. € in 2027 erhöhen.

Die vorstehenden Zahlen zeigen deutlich, welche Folgen sich aus der laschen Budget- und Schuldenpolitik der Vergangenheit für Frankreich ergeben, wobei auch die sehr großzügigen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen in der Covid-19-Zeit beitrugen. Die von der Regierung dringend einzuleitenden Sparmaßnahmen werden in Anbetracht des derzeitigen sozialen Unruhezustandes nicht einfach zu bewältigen sein.

Darüber hinaus werden die Gespräche mit Brüssel und die totale Divergenz mit Deutschland zu dieser Frage die Situation nicht einfach machen. Die Bedeutung der erwünschten finanziellen Auswirkung der Rentenreform wird damit nochmals herausgestellt. Die Zeiten des „lockeren Geldausgebens“ dürften definitiv zu Ende sein.

Wir wünschen Ihnen eine angenehme Lektüre.

Ihre DiagnosticNews-Redaktion

 

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