DIAGNOSTIC NEWS N°200
200. Ausgabe von DiagnosticNews
Im Herbst 2001 beschlossen wir DiagnosticNews zu starten, nachdem einige Zeit früher bereits unsere deutsch-französische Firmenzeitschrift „Diagnostic“ lanciert worden war. Heute liegt Ihnen die 200. Ausgabe von DiagnosticNews vor. Seit nun mehr als 21 Jahren informieren wir Sie monatlich in fachlichen Beiträgen zu unseren Berufsaktivitäten als Wirtschaftsprüfer, Juristen, Steuerexperten und Betriebswirte auf der Basis von Gerichtsurteilen, Gesetzesvorhaben und anderen amtlichen Verlautbarungen. Darüber hinaus versuchen wir, praktische Empfehlungen, resultierend aus unserer Beratungstätigkeit, für Ihre Unternehmen in Frankreich zu geben.
In unserem Editorial möchten wir das politische, wirtschaftsrelevante französische Umfeld einfangen und eine möglichst objektive Einschätzung hierzu abgeben. Unser Anliegen dabei ist es, sehr breit gestreut, aber trotzdem nicht allzu sehr von unserer eigenen Fachmatiere entfernt permanent über das wirtschaftliche Geschehen und Handeln in Frankreich zu informieren.
Ziel war und ist es, weiterhin ständig mit Hilfe unserer Berichterstattung für ein besseres Verständnis zwischen Frankreich und Deutschland zu werben und dazu beizutragen, dass das in den vergangenen 60 Jahren aufgebaute, tiefe Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Ländern nicht gefährdet wird und gleichzeitig die essentielle Grundlage für den Fortbestand von Europa aufrechterhalten bleibt.
Den heutigen Geburtstag von DiagnosticNews möchten wir gleichzeitig zum Anlass nehmen, eine Problematik zu behandeln, die seit mehr als 20 Jahren das politische Frankreich und seine Verantwortlichen strapaziert. Es geht um die Frage, warum es so schwierig ist, sich an die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, die sich z.B. aus der Mondialisierung, dem Klimawandel, dem starken internationalen Wettbewerbsdruck, der gewaltig gestiegenen Lebenserwartung etc. ergeben, anzupassen und die daraus resultierenden Konsequenzen zu akzeptieren. Warum werden die dringend notwendigen Reformen immer nach hinten geschoben bzw. bei Inangriffnahme sofort blockiert?
Die Folgen sind bekannt: Der sich aufbauende Reformstau verschlingt Milliarden und lässt den staatlichen Schuldenberg ins Uferlose steigen. Gleichzeitig werden damit notwendige Ressourcen, die wichtige Zukunftsinvestitionen ermöglichen sollten, weggenommen. Aufgrund der international nicht ausreichenden Wettbewerbsfähigkeit entsteht eine chronische, sogar steigende negative Handelsbilanz. Die Altersversorgung kann ohne dramatische Veränderungen, aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung (im Durchschnitt bezieht jeder Franzose 25 Jahre lang seine Rente), nicht sichergestellt werden.
Warum der notwendige Anpassungsprozess oder – wie es Emmanuel Macron nennt – der Transformationsprozess in Frankreich nur so schleppend vorankommt, kann nicht mit einem Satz beantwortet werden. Ganz generell fehlt es aber weiterhin an der überwiegenden Einsicht seiner absoluten Dringlichkeit in der Öffentlichkeit. Wenn diese jedoch vorliegt, wird die Umsetzung durch die mangelnde Autorität des Parlaments – es besteht immer noch der Druck der Straße – stark behindert und durch die völlig politisierten, nicht ökonomisch denkenden Gewerkschaften blockiert. Das Godesberger Programm der deutschen Sozialdemokratie ist hier noch nicht angekommen.
Die Schwierigkeiten, ein äußerst dringendes Reformvorhaben in Gesetzesform zu bringen, soll am Ablauf der derzeitigen, noch laufenden, immer noch nicht abgeschlossenen Rentenreform aufgezeigt werden:
Bereits in 1995 versuchte der damalige Präsident Jacques Chirac, die von seinem Vorgänger, François Mitterrand, aufgrund seines Wahlversprechens von 1981 vorgenommene Rückführung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre – bis zu diesem Zeitpunkt lag es bei 65 Jahren (!) – wieder anzuheben. Nach einem dramatischen Dauerstreik gab er auf.
Sein Nachfolger, Nicolas Sarkozy, war erfolgreicher bei seiner Rentenreform. Er gab weder den heftigen Streikbewegungen noch dem Druck der Straße nach und setzte das Rentenalter auf 62 Jahre fest. Gleichzeitig führte er das Recht des Arbeitnehmers auf Weiterbeschäftigung bis zum Beginn des 70. Lebensjahres ein. Eine völlig neue Betrachtungsweise des Rentenalters.
François Hollande, der sozialistische Folgepräsident, änderte zwar nicht das Renteneintrittsalter, jedoch die obligatorische Rentenbeitragszahlungsdauer für einen Anspruch auf eine abschlagsfreie Rente. Sie beläuft sich nunmehr auf maximal 43 Jahre für alle ab 1973 geborenen Arbeitnehmer.
Es liegt nun bei Präsident Macron, das Rentenreformwerk zu Ende zu bringen. Sein erster Versuch (2019), der wiederum heftigst bestreikt wurde, fiel Covid 19 zum Opfer. Sein zweiter Anlauf, der aus wahltaktischen Gründen in seine zweite Präsidentschaft verschoben wurde, stößt, trotz erheblicher finanzieller Zugeständnisse und der Ausklammerung von Sonderfällen, weiterhin auf große Widerstände und eine mehrheitliche Ablehnung durch die Bevölkerung. Die kategorische Verweigerung der Regierung über das Renteneintrittsalter von 64 und die Beitragszahlungsdauer von generell 44 Jahren diskutieren zu wollen, verhärtet die Fronten noch zusätzlich. Die parlamentarischen Debatten, die zum Teil zu unwürdigen undemokratischen Auseinandersetzungen führten, sind nun abgeschlossen. Es ist nicht sicher, ob mit Hilfe der traditionellen Rechtspartei LR eine parlamentarische Mehrheit gefunden werden kann oder ob die Regierung wieder einmal zu dem „Verordnungsartikel 49.3“ greifen muss. Sie ist jedoch derzeit fest entschlossen, dem vorliegenden Rentenentwurf Gesetzeskraft zu geben.
In der Zwischenzeit gehen die Proteste und Streikandrohungen weiter. Für den 7. März 2023 wurde ein Großstreik mit zeitlich unbegrenztem Ausgang, der das gesamte Land lahmlegen soll, ausgerufen. Das Rentendrama ist noch nicht zu Ende.
Es gibt aber auch Beispiele, die eine gelungene Durchführung von längst überfälligen Reformen betreffen. Hier ist an erster Stelle die von Emmanuel Macron mit Bravour bewältigte, grundlegende Modifizierung und Vereinfachung des rigiden Arbeitsrechts einschließlich der Arbeitslosenversicherung zu nennen. In der Zwischenzeit stellten sich bereits – nicht nur aufgrund der Reform – erhebliche Verbesserungen bei den Arbeitslosenzahlen, die von ihrem Höchststand von 12% auf 7% fielen, ein.
Es bleiben aber noch viele Baustellen, die zu beseitigen sind und die uns in zukünftigen Editorials beschäftigen werden. Langeweile ist also nicht angesagt.
Wir hoffen, dass Sie uns auch in Zukunft treu bleiben.
Ad multos annos
Ihre DiagnosticNews-Redaktion
Founder, Chartered Accountant, Statutory Auditor, Wirtschaftsprüfer
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